Freies und bioverfügbares Vitamin D3: ein diagnostischer Quantensprung?

Bietet die Messung des freien Vitamin D3 anstelle des Gesamt-Vitamin D3 einen diagnostischen Vorteil?
Autor: Dr. rer. nat. Wolfgang Bayer / Medizinisch verantwortlich: Prof. Dr. med. MSc. Matthias Willmann
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Vitamin D3 (25-OH-D3) ist ein Steroidhormon. Viele Hormone wie Testosteron oder Schilddrüsenhormone liegen zu einem großen Teil an Proteine gebunden vor. Dies gilt auch für Vitamin D3. Der freie, ungebundene Anteil des Vitamin D3 gilt jedoch als der biologisch aktive Anteil, der die Wirksamkeit vermittelt. In den Laboren wird meist das Gesamt-Vitamin D3 gemessen, also der freie und der gebundene Anteil. Es gibt aber auch Tests, mit denen ausschließlich das freie Vitamin D3 gemessen werden kann.
In unserer neuesten Fachinformation gehen wir der Frage nach, ob die Messung des freien Vitamin D3 anstelle des Gesamt-Vitamin D3 einen diagnostischen Vorteil bietet. Dabei werden aktuelle Studien und insbesondere die klinische Relevanz einer Bestimmung des freien Vitamin D3 beleuchtet.
Einleitung
25-OH-D3 ist der zentrale Parameter in der Vitamin D-Diagnostik und dient der Erkennung von Vitamin D-Mangel und -Überschuss. 85–90 % von Gesamt-25-OH-D3 liegt fest gebunden an Vitamin D-Bindungs-Protein (VDBP) vor, 10–15 % locker gebunden an Albumin und nur ca. 1 % in freier Form. Einige Autoren nennen sogar einen freien Anteil von nur 0,03 % (Bikle and Schwartz, 2019).
Bei Hormonbestimmungen, wie dem Testosteron (65–75 % fest gebunden an Sexualhormon-bindendes Globulin – SHBG –, 25–30 % locker gebunden an Albumin, 1–3 % freies Testosteron) hat es sich diagnostisch bewährt, das freie bzw. bioverfügbare Testosteron über die Konzentrationen von Gesamt-Testosteron, SHBG und Albumin zu berechnen (Vermeulen et al., 1999), beispielsweise den freien Androgenindex. Auch bei den Schilddrüsenhormonen ist die Bestimmung der freien Formen (fT3 und fT4) diagnostischer Standard.
Gesamt-, freies und bioverfügbares 25-OH-D3
Vitamin D wird zwar allgemein als Vitamin klassifiziert, ist aber ein Steroidhormon. Entsprechend der „Hypothese der freien Hormone“ (Bikle, 2021) wurde in den letzten Jahren, analog z. B. zum Testosteron, vermehrt auch die Bestimmung von freiem und bioverfügbarem (frei + Albumin-gebunden) 25-OH-D3 durchgeführt (Alonso et al., 2023, Zeng et al., 2021). Dies kann über eine Berechnung aus den Werten von Gesamt-25-OH-D3, VDBP und Albumin erfolgen. Auch ein Enzymimmuno-Assay zur direkten Bestimmung von freiem 25-OH-D3 steht zur Verfügung (Sollid et al., 2016, Bikle und Schwartz, 2019).
Freies Vitamin D ist biologisch aktiv, kann die lipophile Zellmembran passieren und den nukleären Vitamin D-Rezeptor stimulieren. Es wurde daher die Hypothese aufgestellt, dass freies 25-OH-D3 die biologische Aktivität von Vitamin D besser widerspiegelt als Gesamt- 25-OH-D3. Dies gilt vor allem für Erkrankungen, die die Konzentration von VDBP signifikant beeinflussen wie Leberzirrhose und schwere Nierenerkrankungen, aber auch für die Schwangerschaft. Östrogene können generell die Synthese von VDBP durch die Leberzellen stimulieren. Auch genetische Polymorphismen beeinflussen die biologischen Funktionen von VDBP.
Die Studien-Daten zum freien und bioverfügbaren 25-OH-D3 sind jedoch limitiert und die klinische Relevanz dieser Bestimmungen ist Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion (Alonso et al., 2023).
Vergleichende Bestimmungen der 25-OH-D3-Parameter in Hinblick auf klinische Endpunkte
Die diagnostische Wertigkeit der o. g. Parameter wurde im Hinblick auf verschiedene Endpunkte in Studien geprüft.
Untersuchungen an Patienten mit primärem Hyperthyreoidismus unter Substitution mit 14.000 I.E. Vitamin D pro Woche für 12 Wochen zeigten einen vergleichbaren Anstieg von freiem, bioverfügbarem und Gesamt-25-OH-D3, wobei sich für das Gesamt-25-OH-D3 eine bessere Korrelation zum Parathormon ergab. Die Autoren (Dos Santos et al. 2023) sahen keine Vorteile in der Bestimmung von freiem und bioverfügbarem 25-OH-D3 gegenüber Gesamt-25-OH-D3.
Eine in Deutschland durchgeführte große Kohorten-Studie mit einer mittleren Beobachtungszeit von 17 Jahren an Patienten in einem Alter von 50–75 Jahren ergab im Hinblick auf die Mortalität inverse und vergleichbare Korrelationen für freies, bioverfügbares und Gesamt-25-OH-D3 (Zhu et al., 2022a). Diese Ergebnisse wurden auch in einer Meta-Analyse bestätigt (Zhu et al., 2022b).
In Untersuchungen an nicht-diabetischen Patienten in einem Alter von 50–75 Jahren (ESTHER Kohorten-Studie) wurde das Risiko, einen Diabetes zu entwickeln, in Abhängigkeit von den initialen Vitamin D-Konzentrationen untersucht (Beobachtungszeit 14 Jahre). Inverse Assoziationen zum Diabetes-Risiko wurden für freies, bioverfügbares und Gesamt-25-OH-D3 ermittelt mit der stärksten Korrelation für Gesamt-25-OH-D3 (Zhu et al., 2022c).
Prof. Dr. Hermann Brenner, Klinische Epidemiologie und Alternsforschung des DKFZ führt in seiner Übersichtsarbeit zum Vitamin D (Brenner, 2023) wie folgt aus „… results do not support suggestions of switching from a total 25(OH)D to bioavailable or free 25(OH)D when assessing vitamin D status-related health outcomes“. Die in den Laboratorien etablierte Bestimmung von Gesamt-25-(OH)-D3 kann weiterhin als primärer Marker zur Bestimmung des Vitamin D-Status angesehen werden. Bei Grunderkrankungen, die mit signifikanten Veränderungen von VDBP einhergehen, wie z. B. Leberzirrhose und schweren Nierenerkrankungen kann das freie 25-OH-D3 möglicherweise zusätzliche diagnostische Information erbringen. Weitere kontrollierte Studien sind hier erforderlich.
Hinweise für die Praxis
Vitamin D3 kann als Gesamt-25-OH-D3 zur Statuskontrolle oder als aktives 1,25-OH-D3 bei Verdacht auf eine Störung des Vitamin-D3-Stoffwechsels sowie zur Therapiekontrolle im Serum bestimmt werden.
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Literatur
Alonso, N. et al.: Vitamin D metabolites: analytical challenges and clinical relevance. Calcif. Tissue Int. 2023, 112: 158–177
Bikle, D. D. and Schwartz, J.: Vitamin D binding protein, total and free vitamin D levels in different physiological and pathophysiological conditions. Front. Endocinol. 2019; 10: 317
Bikle, D. D.: The free hormon hypothesis: when, why and how to measure the free hormone levels to assess vitamin D, thyroid, sex hormone and cortisol status. JBMR Plus 2021. doi.org/10.1002/jbm4.10418
Brenner, H.: The role of vitamin D for human health: the challenge of the right study design and interpretation. Nutrients 2023; 15: 2897
Dos Santos, L.M. et al.: Levels of bioavailable, and free forms of 25(OH)D after supplementation with vitamin D3 in primary hyperparathyroidism. Endocrine 2023; 80; 183–190
Sollid, S. T. et al.: Effects of vitamin D binding protein phenotypes and vitamin D supplementation on serum total 25(OH)D and directly measured free 25(OH)D. Eur. J. Endocrinol. 2016; 174; 445–452
Vermeulen, A. et al: A critical evaluation of simple methods for the estimation of free testosterone in serum. J. Clin. Endocrinol. Metab. 1999; 84: 3666–3672
Zeng, S. et al.: Reference values for free 25-hydroxy-vitamin D based on established total 25-hydroxy-vitamin D reference values. J. Steroid. Biochem. Mol. Biol. 2021; 210: 105877
Zhu, A. et al.: Vitamin D-binding protein, total, „nonbioavailable”, bioavailable, and free 25-hydroxyvitamin D, and mortality in a large population-based cohort of older adults. J. Intern. Med 2022a; 292: 463–476
Zhu, A. et al.: Vitamin D-binding protein, bioavailable, and free 25(OH)D, and mortality: a systematic review and meta-analysis. Nutrients 2022b; 14: 3894
Zhu, A. et al.: Consistent inverse associations of total, “bioavailable”, free and “non-bioavailable” vitamin D with incidence of diabetes among older adults with lower baseline HbA1c (</= 6 %) levels. Nutrients 2022c: 14: 3282